Das große Glück

Das große Glück
V.l.: Schneidermeisterin Silvia Aschauer Und Ayten Paçariz, Operative Leiterin Des Vereins NACHBARINNEN
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  • Veröffentlicht: 06.06.2024
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Taschen, Beutel und Rucksäcke aus alten Planen: In der Nähwerkstatt, einem Projekt des Vereins NACHBARINNEN, erzeugen Frauen nicht nur Upcycling-Produkte. Sie bringen auch vieles zu Wege, woran die Politik scheitert: Integration in den Arbeitsmarkt, Begegnung auf Augenhöhe und eine echte Perspektive für Migrantinnen.

Dass Hanadi Kabbani hier sitzt und geduldig Kordeln in Turnbeutel fädelt, ist ein großes Glück. Als sie Aleppo, Syrien, verließ, begann für sie ein Leben voller großer Unbekannten. Die Zukunft? Ein großes Fragezeichen. Nach einigen Jahren in der Türkei kam sie, verheiratet, Mutter von vier Söhnen, schließlich nach Wien. Sie ist eine lustige Frau mit Lachfältchen und leuchtenden Augen. Kabbani spricht gut Deutsch, und wenn ihr ein Wort nicht einfällt, fragt sie eine ihrer Kolleginnen. Dann lachen alle auf der Suche nach einem komplizierten Wort, das ihnen nicht einfallen will.

Die Frauen sitzen um einen Tisch, vor ihnen ein Stapel fertig genährter Turnbeutel und Rollen mit dicken Kordeln. Genäht wurden die Beutel aus alten Planen für eine Auftragsarbeit – ein Upcycling-Auftrag der Art, wie ihn die Nähwerkstatt fast täglich erreicht. Es sind Unternehmen, die Taschen für ihre KundInnen und MitarbeiterInnen anfertigen lassen. Hier kommen aber auch gespendete Materialien an, LKW-Planen etwa, aus denen die Frauen der Nähwerkstatt nützliche Taschen, Federpennale oder Rucksäcke schneidern, die sie dann in ihrem Webshop verkaufen.

So rattern die Nähmaschinen, dampft und zischt das Bügeleisen und klappern die Scheren, während Ayten Paçariz, operative Leiterin des Projekts, erzählt, wie es dazu gekommen ist, dass rund zehn Frauen mit Migrationshintergrund in einer Werkstatt im 15. Wiener Bezirk sitzen und Upcycling-Produkte herstellen. Die Nähwerkstatt, erzählt sie, sei ein Projekt der NACHBARINNEN, einem Verein, der vor mehr als zehn Jahren gegründet wurde. „Die ursprüngliche Idee dazu“, so Paçariz, „kam von Christine Scholten und Renate Schnee.“ Erstere Kardiologin, Zweitere Sozialarbeiterin. Beide kamen in ihrer Arbeit jeden Tag mit Frauen aus anderen Kulturen in Berührung und „merkten, dass diese nicht so frei agieren können wie Frauen aus Österreich“. Weil sie diesen Frauen helfen wollten, starteten sie ein Projekt und organisierten anfangs Infoveranstaltungen zum Thema Gesundheit, die von migrantischen Frauen besucht wurden – die dann wiederum neue Frauen mitbrachten.

Ankommen, dazugehören

„Das war eine ausschlaggebende Beobachtung“, sagt Ayten Paçariz, „nämlich, dass es jemanden braucht, der eine Verbindung zu den anderen Kulturen herstellt – dass es nur so funktioniert.“ So gründeten sie die NACHBARINNEN, stellten einen fünfmonatigen Kurs auf die Beine und bildeten Sozialassistentinnen aus, die eine spezielle Superkraft besaßen: „Es waren Frauen, die selbst noch mit einem Bein in der eigenen Kultur verankert waren, mit dem anderen Bein aber hier schon fest auf dem Boden standen.“  Frauen also, die mit Migrantinnen in der Muttersprache und auf Augenhöhe kommunizieren konnten und in der Lage waren, ihnen Informationen zu geben: über Sozialleistungen, Schulen, Behörden, Förderungen, Unterstützungen – kurz: über all das, was sie brauchten, um richtig ankommen und dazugehören zu können.

Das Konzept der NACHBARINNEN sieht vor, dass die Sozialassistentinnen Familien begleiten und sie im Normalfall einmal die Woche zu Hause besuchen. „Es gehört dazu, dass die NACHBARINNEN den Familien immer eine kleine Aufgabe bis zum nächsten Treffen geben“, erklärt Ayten Paçariz. „Zum Beispiel, kleine Kinder nicht erst um 22 Uhr, sondern schon um 20 Uhr ins Bett zu stecken.“ Die Familien, so das Ziel, sollten wieder Schritt für Schritt zu einem selbstständigen Leben finden, Regelmäßigkeiten und Konsequenzen setzen, Verbindlichkeiten eingehen.

„Genau so eine Verbindlichkeit haben wir dann auch mit dem Nähkurs hergestellt“, sagt Ayten Paçariz. Wer an einem Nähkurs teilnehmen wollte, musste eine Kaution hinterlegen, die zurückgezahlt wurde, wenn die Frauen den Kurs erfolgreich beendeten – und wenn sie sich danach als Näherin anstellen ließen. „Damit war der Grundstein für die Nähwerkstatt gelegt.“

Selbstermächtigung

Dass der Verein sich dezidiert an Frauen wendet, hat einen guten Grund. „Frauen versorgen die Familie, schupfen und checken alles“, sagt Paçariz. „Nach außen tritt aber meistens hauptsächlich der Mann in Erscheinung.“ Um das aufzubrechen, wollen sie Frauen befähigen, sich selbst zu ermächtigen. „Es ist spannend zu beobachten, dass sich dadurch, dass die Frauen eine Aufgabe, eine Perspektive bekommen, sie sich gestärkt fühlen, sich dadurch aber auch das ganze Familiengefüge zum Besseren verändert.“

„Integration ist kein einseitiger Prozess, nichts, was man nur fordern kann. Es reicht nicht, einen Flyer zu verteilen und zu sagen: ‚Integriert euch.‘“
Ayten Paçariz

Derzeit sind sieben Frauen in der Nähwerkstatt angestellt. Aber es könnten noch viele mehr sein – die Nachfrage wäre vorhanden, der Bedarf an integrativen Projekten, die tatsächlich funktionieren, ist immens. Die NACHBARINNEN gelten als Vorzeigeprojekt, leisten jedoch die Arbeit, die eigentlich der Staat leisten sollte. „Wenn es um Integration geht, hapert es an vielen Ecken und Enden“, sagt Ayten Paçariz. „Integration ist kein einseitiger Prozess, nichts, was man nur fordern kann. Es reicht nicht, einen Flyer zu verteilen und zu sagen: ‚Integriert euch.‘“ Man müsste, findet sie, auch eine Willkommenskultur entwickeln. Diese fehlt ihr in Österreich. „Man müsste Begegnungen schaffen, Berührungspunkte zwischen ÖsterreicherInnen und MigrantInnen. Außer den Deutschkursen, wo sie wieder nur unter sich sind, gibt es dazu von staatlicher Seite wenig.“ Das alles, so Ayten Paçariz, würden NGOs wie sie stemmen.

Die Gehälter der insgesamt rund 20 Mitarbeiterinnen – Näherinnen, Sozialassistentinnen, Administratorinnen – werden durch die Nähwerkstatt, durch Spenden sowie Subventionen und Zuschüsse finanziert. Damit können sie überleben, aber es wäre noch weit mehr möglich. „Wir könnten uns viel breiter aufstellen, könnten in allen Bundesländern als Franchise-Projekt existieren“, so Ayten Paçariz, „aber wir kämpfen jedes Jahr um die Finanzierung unserer Basisarbeit. PolitikerInnen kommen zu uns, schauen sich an, wie wir arbeiten, finden es super – aber die großen Subventionssprünge machen wir nicht.“

„Die Menschen hatten in ihrer alten Heimat eine Arbeit, ein Leben. Dann kommen sie hierher und haben nichts.“
Silvia Aschauer

Vor dem Nichts

Seit es die Nähwerkstatt der NACHBARINNEN gibt, gibt es hier auch Silvia Aschauer. Die gelernte Schneidermeisterin entwirft die Schnitte und leitet die Frauen bei den einzelnen Schritten an, die es braucht, um aus alten Planen neue Taschen zu nähen. Dass es Menschen so schwer gemacht wird, Arbeit zu finden, findet sie nicht in Ordnung. „Früher gab es Fabriken, in denen auch Menschen, die nicht oder kaum Deutsch gesprochen haben, Geld verdienen und auf eigenen Beinen stehen konnten“, sagt sie. Heute, wo die meisten Produktionsstätten abgewandert sind und der Dienstleistungssektor dominiert, sei es für MigrantInnen schwer geworden, Fuß zu fassen. „Die Menschen hatten in ihrer alten Heimat eine Arbeit, ein Leben“, sagt Silvia Aschauer, „dann kommen sie hierher und haben nichts.“ Vor diesem Nichts zu stehen, sagt sie, könne man sich kaum vorstellen.

Die Nähwerkstatt gibt den Frauen, den Familien, die Möglichkeit, wieder Fuß zu fassen. Dass das für „ihre“ Näherinnen einen Unterschied bedeutet, beobachtet sie jeden Tag. „Dass sie hier etwas tun können und die Wertschätzung, die sie bekommen, gibt ihnen Selbstbewusstsein, Selbstwertgefühl.“  Die Sprachbarriere steht ihr bei der Arbeit mit den Näherinnen nicht im Weg. Die meisten können etwas Deutsch, und wenn es um Fachausdrücke geht, weiß sich die resolute Schneidermeisterin zu helfen. „Ich zeige es einfach vor“, sagt sie, „und manchmal übersetzt eine Frau für die anderen. Das hat sich alles ergeben.“

„Wir arbeiten hier wie eine Familie, nicht wie Kolleginnen.“
Hanadi Kabbani

Das erste eigene Geld

Deutsch zu lernen: ein Schlüsselfaktor. Auch für Hanadi Kabbani war – und ist es immer noch – ein großes Ziel, endlich „B1“ zu schaffen, also die Deutschprüfung für Fortgeschrittene. Die grundlegenden Sprachkurse, A1 und A2, hat sie schon geschafft – wenn auch mit Schwierigkeiten, weil die Kurse während der Coronapandemie nur online stattgefunden haben und die Gesamtsituation überhaupt schwierig war. Motiviert hat sie auch die Tatsache, dass sie das erste Mal in ihrem Leben eine eigene Arbeit hat. „Ich habe mit 16 geheiratet, habe vier Söhne bekommen und war in Syrien Hausfrau“, erzählt sie auf Deutsch. Nun hat sie zum ersten Mal ihr eigenes Geld. „Jetzt muss ich nicht fragen, ob ich etwas kaufen darf.“ Auch das Arbeitsklima ist gut, sagt sie. „Wir arbeiten hier wie eine Familie, nicht wie Kolleginnen“, sagt Hanadi Kabbani und lacht, während sie einen weiteren fertigen Turnbeutel auf den Stapel neben sich legt. Es ist ihr großes Glück.

Informationen zum Projekt

Die NACHBARINNEN sind Sozialassistentinnen, die selbst Wurzeln in anderen Ländern und/oder eigene Migrationserfahrungen gemacht haben. Sie besuchen und helfen Familien, die sich in Notlagen befinden und häufig zurückgezogen leben, begleiten sie etwa zu Behörden, organisieren Deutschkurse und unterstützen sie dabei, in ihrer neuen Heimat Fuß zu fassen. Die Nähwerkstatt ist ein Projekt der NACHBARINNEN, für das Migrantinnen zu Näherinnen ausgebildet werden und so nicht nur eine Arbeitsstelle finden, sondern auch einen Schritt aus der sozialen Isolation gehen können.