Buchempfehlung: „Um mich herum Geschichten“

Buchempfehlung: „Um mich herum Geschichten“
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  • Veröffentlicht: 10.05.2023
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Manchmal werden die eindrücklichsten Geschichten von Gegenständen erzählt.
Folgt man in diesem Roman den Erzählungen eines Laptops, einer Promotionsurkunde, eines Anzugs und einer Oud, betritt man einen nie erlebten Kosmos aus Gerüchen und Bewegungen, Geräuschen und Berührungen.

Alltagswunder, Erinnerungen und Stapel voller Hoffnung

Die Gedankensammlerin hat Enkelkinder, sie will zur Uni gehen, sie forscht und schreibt. Endlich hat sie ausreichend Schreib- und Speicherplatz. Aber natürlich will sie bald mehr: einen Account bei Facebook. Sie schämt sich für ihre Zahnlücke und erzählt, dass sie die erste in ihrer Familie war, die eine Oberstufe besuchte und nicht nur die Grundschule abgeschlossen hatte. Ihre Familie und ihre NachbarInnen raten ihr davon ab, die Universität zu besuchen, sie solle doch heiraten, dann sei sie sicher. Die Vergangenheit, die Erinnerungen vermischen sich hier elegant mit der Gegenwart: Dank des Laptops, einem Geschenk ihrer Kinder, kann sie jetzt alle Distanzen googeln. Aha, so weit war ihr Dorf Saqba also von der Universität in Damaskus entfernt. Sie sei, so erzählt sie dem Enkel, die Hälfte der Strecke von zehn Kilometern zu Fuß gegangen. Jetzt hat sie die alten Wege dank des Laptops und Google Maps vor sich, die Sehnsucht wird laut, sie legt den Laptop zur Seite. Dieser jedoch denkt weiter nach und fühlt mit.

„Sie tippte Namen von Städten, Straßen und Gassen ein, speicherte Bilder, zeigte sie ihren Kindern und Enkelkindern und tippte aufgeregt mit dem Finger auf meinen Bildschirm. ‚Da bin ich zur Schule gegangen! Da hat meine Tante gewohnt! “
Seite 25

Die Rituale ändern sich radikal, der Laptop läuft in Dauerschleife, die Familie muss warten, wenn Hilfsorganisationen kontaktiert oder Essen für Menschen organisiert werden muss. Nachdem im ersten Buchkapitel der Laptop als Ich-Erzähler auftritt, kommen im Verlauf des Romans eine Promotionsurkunde, ein wertvoller Anzug und eine schon lange nicht mehr gespielte arabische Laute, eine Oud, zu Wort. Die Gegenstände dokumentieren mehr als sie erzählen und wenn sie erzählen, dann wie Kinder, ohne Freude an Be- oder Abwertungen. Wer den Erzählungen der einzelnen Gegenstände folgt, betritt einen nie erlebten Kosmos aus Gerüchen und Bewegungen, Geräuschen und Berührungen. Man liest die Geschichten, dann schielt man zu seinen eigenen Gegenständen in den Regalen: Was wohl dieses Lesezeichen über einen zu erzählen wüsste?

Was Sie versäumen, wenn Sie diesen dicht geschriebenen, straff gewobenen wie schmalen Roman nicht lesen:

Alltagszenen, Migration, Schmerz, Erinnerung, gekonnte Inszenierung des Brückenbauens zum Damals, im ersten Kapitel Monologe eines Laptops über seine Nutzerin, Familiengeschichte, Melancholie und Stärke.

Die Autorin:

Jahrgang 1990 in Melk/Österreich, ist in Damaskus aufgewachsen und lebt als Autorin, Grafikdesignerin und Illustratorin in Wien. Für ihr Debüt als Autorin mit „Eine Träne, ein Lächeln. Meine Kindheit in Damaskus“ erhielt sie den Österreichischen Kinder- und Jugendbuchpreis. Derzeit ist sie Teil des Marketingteams im Kulturhaus Brotfabrik in Wien.

Luna Al-Mousli:
Um mich herum Geschichten.
Frankfurt: Edition W 2022.

Christina RepolustChristina Repolust

Ihre Leidenschaft zu Büchern drückt die promovierte Germanistin so aus: „Ich habe mir lesend die Welt erobert, ich habe dabei verstanden, dass nicht immer alles so bleiben muss, wie es ist. So habe ich in Romanen vom großen Scheitern gelesen, von großen, mittleren und kleinen Lieben und so meine Liebe zu Außenseitern und Schelmen entwickelt.”
www.sprachbilder.at

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