Buchempfehlung: „Siegfried“

Buchempfehlung: „Siegfried
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  • Veröffentlicht: 23.09.2023
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Siegfried ist präsent: Er riecht nach Zigaretten, gutem Parfum, nach Sicherheit, ein wenig nach Patriarchat. Er, der Stiefvater der Ich-Erzählerin, scheint immer für sie da gewesen zu sein: streng, Rotwein trinkend, die Mutter liebend, gängelnd, verachtend, Geld habend und Geld gebend. Neben ihm kann kaum ein Mann, ein Partner bestehen.

Tage wie diese

An dem Tag, an dem die Protagonistin in die Psychiatrie fährt, träumte sie, dass Siegfried gestorben sei.

„Es war, als hätte jemand die Gewissheit, dass Siegfried tot ist, vor mir in unserem Schlafzimmer abgestellt, mitten in die bleiche Stille des Morgens hinein, die mir Angst machte, nicht nur an diesem Tag. Ich lief ans Fenster, ich wollte wissen, wo die Sirene herkam, doch da war nichts, nur ein Lieferwagen vor dem Supermarkt schräg gegenüber.“
Seite 6

Die Autorin beeindruckt mit den vielen Details, mit denen sie ihre Szenen ausstattet: Da ist ihr Aufenthalt als Kind bei Hilde, Siegfrieds Mutter, bei dieser seltsamen Frau, die so viel Wert auf Struktur und Ordnung legt und sich dabei selten wäscht. Da ist die Abwertung anderer Menschen schnell zur Hand, da werden andere lächerlich gemacht, mit denen will man nichts zu tun haben.

Da ist die Mutter, die so gern und viel putzt, da hört das Kind, die Ich-Erzählerin, die unterschiedlichen Putzschritte und kann die Nuancen erkennen, mit denen die Mutter saubermacht: zügig, verträumt, wütend. Autos spielen in der Kindheit eine wichtige Rolle, die Kleidung ist stets ordentlich, Hilde trainiert „das Kind“ im Schwimmen, die Mutter wurde vom Kindesvater verlassen, sie träumt noch immer von Paris. Und jetzt sieht die Erzählerin in ihrer kleinen Familie, wie sehr das Putzen beruhigen kann, wie anstrengend der Alltag ist, manchmal scheitert man an einem Verschluss. Das eigene Kind ist munter, soll gesund ernährt werden. Hier erzählt das Ich als Autorin immer auf der Suche nach dem Plot und einem Vorschuss, den sie braucht, da ihr geliebter Alex in der Bar zu wenig verdient und dabei ist, seine Träume zu verlieren.

„Aber mit Alex ging es um andere Dinge. So nah wie möglich sein, ich musste unter seine Haut kommen und er unter meine. Seine Finger in meinen Haaren, seine Hände zwischen meinen Beinen, sein Blick auf meiner Haut, unter dem alles an mir erwachte, schön wurde und belebt. ... Zwei Sachen wusste ich seit unserem ersten Spaziergang: dass er einundzwanzig Jahre alt war, fünf Jahre jünger als ich; und dass auf seiner Geburtsurkunde noch das Wappen der DDR war.“
Seite 105

Alex, der so ganz anders aufwuchs, der immer leerer im Gesicht wurde, der seine Eltern am liebsten verschweigt, zieht sich zurück: Ist er gut genug für sie? Er ist so anders als Siegfried und der schöne Lektor Benjamin mitsamt seinem Tafelsilber und Gehabe. Die Überforderung steigt, die Frustration ebenfalls, die Sehnsucht wächst, vor allem die Sehnsucht nach Ruhe: Die gäbe es wohl in der Psychiatrie.

Was Sie versäumen, wenn Sie diesen Roman nicht lesen:

Alltag, Abstand zum früheren Leben, Überforderung, finanzielle Enge, Beziehungen, Familien damals und heute, soziale Schichten und das in feinen Szenen, Elternsein, Erwartungen, Enttäuschungen, Selbstgespräche mit hoher Selbstkritik, Kindheitsmuster, Widerstand, Aufbruch, Ausbruch.

Die Autorin:

1984 geboren, aufgewachsen im Odenwald, Studium der Literatur- und Kulturwissenschaft sowie der Geschichte in Berlin. 2012 – 2017 Redakteurin im Feuilleton der „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“, aktuell bei „Die Zeit“. Sie lebt seit 2005 in Berlin, ihre Beiträge drehen sich um Literatur, Gesellschaftspolitik, Rap und Feminismus. „Vollkommen leblos, bestenfalls tot“ war ihr Romandebüt.

Antonia Baum:
Siegfried.
Berlin: Claassen Verlag 2023.

Christina RepolustChristina Repolust

Ihre Leidenschaft zu Büchern drückt die promovierte Germanistin so aus: „Ich habe mir lesend die Welt erobert, ich habe dabei verstanden, dass nicht immer alles so bleiben muss, wie es ist. So habe ich in Romanen vom großen Scheitern gelesen, von großen, mittleren und kleinen Lieben und so meine Liebe zu Außenseitern und Schelmen entwickelt.”
www.sprachbilder.at

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