Buchempfehlung: „Die Enkelin“

Buchempfehlung: „Die Enkelin“
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  • Veröffentlicht: 08.05.2024
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Eine Spurensuche zwischen Generationen und Kulturen.

Welche Kultur?

Es sind immer die, die ankommen, die alles klarer sehen: den Verfall, die Verzweiflung, das eigene Fremdgewordensein. So steigt die Ich-Erzählerin aus dem Wagen, sieht den rissigen Verputz des Hauses des Großvaters: Einsam werden sie beide sein, das Haus und Lazar, der Großvater, der im still gewordenen Dorf einfach weiterlebt. Als die Mutter verstarb, hat der Großvater die Ich-Erzählerin und deren Schwester Ana vom Bahnhof abgeholt. Mit 60 Kilometern pro Stunde ging es in seinem alten Skoda über die Landstraße. Jetzt kümmert sich Natalia um den Großvater, reicht ihm die Vitamin-D-Tropfen: Großvater ist meistens drinnen, die Sonne sei schlecht für ihn, so Natalia.

Großvater sei kein netter Mensch gewesen, erzählen die Frauen im Dorf. Er habe seine Frau und seine Tochter geschlagen: Einmal habe sie „nur“ blaue Flecken gehabt, ein anderes Mal einen gebrochenen Arm. Doch auch andere Erinnerungen werden wach:

„Als wir ankamen, stand Lazar schon vor dem Haus, die geschlossene Tür im Rücken. Wir stiegen aus, stellten uns vor ihn hin, während unsere Eltern die Rucksäcke und Taschen aus dem Kofferraum holten, lächelten, weil er hinter seinem Rücken zwei Fäuste machte und sie zu uns nach vorne drehte, mit prüfenden Augen.“
Seite 146

Die Mädchen lutschen die Gummibärchen, die ihnen Lazar entgegenstreckt, „tot“ und schlucken sie schließlich. Mutter beginnt hier, in ihrem Elternhaus, mit Freude zu kochen, bevorzugt die Rezepte ihrer Kindheit. Die Mutter sei eine hervorragende Köchin gewesen. Dass Lazar über die Malbücher der Mädchen – Mickey Mouse und Donald Duck – dermaßen in Rage geraten kann, überrascht die Familie und verstört die kleinen Mädchen in ihrer Malfreude. Plötzlich hat Donald ein hässliches, ein billiges Amerika-Gesicht.

Die Spurensuche durch Haus und Garten, durch Sprache und Familiengeschichten sowie -geheimnisse geht weiter und mündet in kargen Dialogen. Hier lässt sich viel zwischen den Zeilen lesen: Einsamkeit in vielen Sprachen, Fürsorge gegen Bezahlung, viele Erinnerungen, Trauer um das Verlorene und Freude über Gemeinsames. Die Erinnerungen am Familientisch sind keine Idyllen, aber durchaus mit glücklichen Einsprenkelungen. Und was heißt hier schon Glück? Schön ist es, wenn die Sonne scheint, und für das Vitamin D gibt es Tropfen.

Was Sie versäumen, wenn Sie diesen Roman nicht lesen:

Rassismus in Dosen, aber spürbar, Großvater-Enkelin-Beziehung, Fragen der Care-Arbeit, Erinnerungen, klare Worte, feine Skizzen, großartige Szenen, unbezahlbare Ehrlichkeit.

Lisa Mundt:

1990 in Wien geboren, studierte Sprachkunst an der Universität für Angewandte Kunst Wien. Ihr Romandebüt „Als meine Therapeutin schwieg“ (2019) erschien ebenfalls im Milena Verlag. Lisa Mundt lebt und arbeitet in Niederösterreich und Wien.

Lisa Mundt:
Die Enkelin.
Wien: Milena 2023.

Christina RepolustChristina Repolust

Ihre Leidenschaft zu Büchern drückt die promovierte Germanistin so aus: „Ich habe mir lesend die Welt erobert, ich habe dabei verstanden, dass nicht immer alles so bleiben muss, wie es ist. So habe ich in Romanen vom großen Scheitern gelesen, von großen, mittleren und kleinen Lieben und so meine Liebe zu Außenseitern und Schelmen entwickelt.”
www.sprachbilder.at