Niemand vermag es, so in sich zu verschwinden wie diese Mutter. Sie ist da und gleichzeitig weg. Die tote Mutter in ihrem Grab lässt sich besuchen, hier lässt es sich nachdenken, sich an sie erinnern.
Nie das Kleinsein vergessen
„Ich kann Mutter denken, die klein war, die zart, die schnellfüßig war. Ich kann sie still, laut, ich kann sie zornig und traurig denken. Ich kann sie stolz denken, schweigsam oder zaghaft …“
Die Erinnerungen der Tochter, der Ich-Erzählerin, der Ich-Recherchiererin, erweitern sich im Verlauf des Romans: Ihre Mutter hat überlebt, indem sie sich stets klein gemacht hat. Sie war das einzige Kind, das einst weggegeben und dann, als die Verhältnisse wieder besser waren, nicht zurückgeholt worden ist. Da ist dieses kleine Mädchen, das den Winter hasst und gegen die Kälte ansingt. Das bringt ein wenig Linderung und Selbstbehauptung. Aber daran denkt das Mädchen nicht. Später wird sie Gedichte schreien, während sie am Feld hinterm Haus arbeitet. Hier sind die Worte frei, sie liebt Balladen. Später merkt das ihre Tochter, als sie diese in der Schule lernen muss: Längst beherrscht die Mutter den Text, rezitiert ihn beim Bügeln. Hier ist viel Enge, viel Kampf. Hier agieren die Frauen mit geradem Rücken, sparsam und einsam. Geschickt mit den Händen, scheu mit den Worten: Erinnerungen an die Schwarzbeeren der Großmutter und die flinken, schnellen und leisen Schritte der eigenen Mutter.
Die Kälte des Winters entsprach der Kälte und Härte in Mutters Leben seit ihrer Kindheit: Arbeit, Heimweh und das Wissen, dass sie ihre Familie am Sonntag zwar besuchen, aber nicht bei ihr bleiben darf.
„Ich liebte meine Großmutter. Sie war spröde und trocken wie Brot, aber nichts und niemand war so gut wie sie. Ich habe sie nie umarmt, weil Umarmen nicht ihre Art war, aber ich kannte ihren Körper, der sich anfühlte wie eine Zaunlatte, sperrig und hart und von einer Ungebrochenheit, in der meine Großmutter in der Welt stand.“
Eine Welt, die ohne Worte auskommt, in der das Singen und Beten verhindert, den Klang der eigenen Stimme zu vergessen, in der ein Lawinenunglück zwei Höfe mitreißt und nur die, die immer dazwischen waren, verschont, ist eine Welt, in der man genau beobachten kann. Hier will einen niemand in die Irre führen, hier kann man schauen, fühlen, beobachten, findet eigene Worte für die Gesten und Verrichtungen der Frauen. Die Stationen der Mutter sind die Stationen der Geschichte, des Anschlusses, der Optanten. Das Persönliche ist hier immer auch das Politische, ist immer auch die Frage von Treue und Verrat.
Tief beeindruckt schließe ich diesen Roman, das Lesezeichen darf noch ein wenig drinbleiben, die Kälte noch einmal spüren, während ich mich vor dieser Autorin, ihren Ahninnen verneige. Und das wortlos.
Was Sie versäumen, wenn Sie diesen Roman nicht lesen:
Kälte, Härte, Durchbeißen, das Nicht-Dazugehören, das Nirgendwo-Hingehören, das Überflüssigsein und das Dennoch-Überleben der Mutter und davor der Großmutter, Erinnerungen an Franz Innerhofers „Schöne Tage“, wobei hier Hass in Religiosität/Frömmigkeit transformiert wird, hier wird geschwiegen, werden Gedichte geschrieben, wird gebetet.
Christine Vescoli:
1969 in Bozen geboren, studierte Germanistik und Kunstgeschichte in Wien und verfasste ihre Abschlussarbeit über Robert Walser. Unter anderem arbeitet sie als Lektorin und Kuratorin der Literaturtage Lana.
Christine Vescoli:
Mutternichts.
Salzburg: Otto Müller Verlag 2024.
Christina Repolust
Ihre Leidenschaft zu Büchern drückt die promovierte Germanistin so aus: „Ich habe mir lesend die Welt erobert, ich habe dabei verstanden, dass nicht immer alles so bleiben muss, wie es ist. So habe ich in Romanen vom großen Scheitern gelesen, von großen, mittleren und kleinen Lieben und so meine Liebe zu Außenseitern und Schelmen entwickelt.”
www.sprachbilder.at