Adoleszenz, Missbrauch, Träume und schonungslose Ich-Befragung als gelungener Debüt-Cocktail ohne Happy Hour.
Wenn die Wut kein Ziel mehr hat
Sommer 2014. Milena beendet nach sechs Jahren ihre Beziehung und fliegt nach Dublin. Hier wird im Präteritum erzählt: die Abreise, der Flug, die Begegnung mit Josh, der viel größer ist, als ihn die Ich-Erzählerin Milena in Erinnerung hat. Auf Seite 19 erfährt man unter „Nick 2008“, dass die Ich-Erzählerin 15 Jahre alt war, als sie Nick kennenlernte, den anderen, den sie im Laufe der Erzählung immer wieder verlassen will.
„Es war Mitte November, wir begegneten uns auf einem Konzert, das die Kirchengemeinde der Stadt für Jugendliche aus dem Umland organisiert hatte. ... Das erste Mal, dass Nick und ich miteinander schliefen, war auf dem Rücksitz eines Mietwagens in meinen beiden Freistunden.“
Süffisant hält das erzählende, reflektierende Ich fest, dass nicht nur Gott alles sehen könne, sondern auch Mama diese Gabe beherrsche. Überhaupt ist Milena nicht zimperlich, wenn es um religiöse Gefühle oder die Geilheit des Theologen Nick geht, dem sie seinen Glauben nicht abkauft. Wie er sich doch anstellt, wenn sie ihn berühren will und er, der Herr Diakon, noch seinen Talar anhat. Doch die Erektion muss der Talar schon aushalten.
„Ich las die Kinderbibel mit der gleichen kritischen Distanz wie Enid Blytons ‚Fünf Freunde‘.“
Dass die Momente zwischen Nick und Milena limitiert sind, nimmt sie hin, bis sie erkennt, dass sie nicht die Einzige ist, die ein Verhältnis mit ihm hat. Er bedient das Klischee des Verständnisvollen, des Einfühlsamen, will ein Muster an Integrität, von der er so gern spricht, sein. Gleichzeitig zwingt er Milena dazu, mit anderen Männern zu schlafen, wobei er sich am heimlichen Filmen/Zusehen aufgeilt. Dann stirbt er, stirbt an einem Stromschlag beim Hantieren an seinen ach so geliebten Verstärkerboxen. Ein Knall und aus. Kein Nick mehr, kein Stalking mehr. Milena beginnt zu erzählen.
Was Sie versäumen, wenn Sie diesen Debütroman nicht lesen:
Verstörung, noch einmal Verstörung, immer noch Verstörung – eine harte und keine weinerliche Verstörung –, klare, distanzierte Erzählhaltung der Ich-Erzählerin, deren Sache Selbstmitleid nicht ist, eine Idee davon, wie liebesfähig die Protagonistin Milena ist und wie sehr Erwachsene sie doch ausnutzen, belügen und missbrauchen.
Selina Seemann:
1993 geboren, studierte Germanistik, Anglistik und Kultur-Sprache-Medien, lebt in Kiel und ist als Slam-Poetin, Autorin und Moderatorin bekannt. „Die Stärkste unter ihnen“ ist ihr Debütroman.
Selina Seemann:
Die Stärkste unter ihnen.
Wien: Kremayr & Scheriau 2023.
Christina Repolust
Ihre Leidenschaft zu Büchern drückt die promovierte Germanistin so aus: „Ich habe mir lesend die Welt erobert, ich habe dabei verstanden, dass nicht immer alles so bleiben muss, wie es ist. So habe ich in Romanen vom großen Scheitern gelesen, von großen, mittleren und kleinen Lieben und so meine Liebe zu Außenseitern und Schelmen entwickelt.”
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