Buchempfehlung: „Der Vogel ist krank“

Buchempfehlung: „Der Vogel ist krank“
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  • Veröffentlicht: 20.05.2024
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Ein Roman über große Liebe, tiefe Verzweiflung und traumhaft gezeichneten Alltagswahnsinn.

Glück ist im Grunde sadistisch

Christian Beck war einmal Schriftsteller. Er liebt Worte und Satzmelodien – auch jetzt noch, wo er seit Jahren als Übersetzer von Anleitungen für technische Geräte arbeitet. Wäre er wohl schuld, wenn sich jemand mit einer Kettensäge die Hand abtrennte, weil er die Bedienungsanleitung schlecht oder zu ungenau übersetzt hat? Seine Frau, die er nie geheiratet hat, weil einmal sie und meistens er nicht wollte, nennt er seit einigen Jahren „Vogel“. Sie ist bei der direkten Anrede geblieben, während sie von sich in der dritten Person spricht. So erklärt sich sehr bald auch ihr Ausruf „Der Vogel ist krank“ mitten in der Nacht. Sie blutet, gemeinsam gehen sie zum Gynäkologen, holen eine zweite, wenn nicht eine dritte Meinung ein: Es bleibt dabei, Vogel ist schwer, sogar unheilbar krank. Die Frau ist Forscherin und akribisch wie Christian. Mit ihrem Einkommen kommen sie ganz gut aus und setzen auf Frieden und Erfüllung von Aufgaben.

Vogel will heiraten, nicht Beck, sondern den Asylwerber, den sie seit einem Jahr kennt, mit dem sie schläft, den sie liebt. Beck wird ihr Trauzeuge, der Asylwerber zieht bei den beiden ein, Beck kredenzt am Hochzeitstag Wein und nennt seine nun mit dem Asylwerber verehelichte Freundin noch immer „meine Frau“.

„Seine Frau lacht, die Hochzeitsnacht ist offenbar noch nicht zu Ende. Lachen ist gesund, solange sie lacht, geht es ihr besser. Dies wird eine lange Nacht für Beck. Er kriecht in sein provisorisches Bett unter der Garderobe zurück.“
Seite 77

Grünberg offenbart die Geheimnisse dieses Paares: So hat Becks Frau sehr viele seiner Kleider an Arme verschenkt, einmal einen schwer verunstalteten Mann in die Wohnung geholt, ihm helfen wollen, ihn lieben wollen. Jetzt will sie noch eines lernen: Ziegenkäse selber machen. Ein überschaubares Ansinnen. Die drei wählen ein Seminar aus und die Seminarleiterin weiht sie in dieses Geheimnis ein. Auch hier ist viel Brüchiges, Verletztes, Verstörtes zu spüren. Hier will keiner aus seiner Rolle raus, selbst Beck will nicht wieder als Schriftsteller arbeiten, auch wenn eine Zeitschrift eine alte Geschichte von ihm abdruckt. Gegen gutes Geld. Vogel und Beck wollten davon eine Klimaanlage installieren lassen. Aber das ist jetzt, nachdem Vogel gestorben ist, egal. Gemeinsam mit dem Asylwerber und Ehemann trauert Beck und nimmt schließlich die Einladung in eine Talkshow an, wo er sich in seiner Rolle als Autor einer Kurzgeschichte wegen eines aktuell begangenen Attentats „verantworten“ muss. Hat er damals, vor so vielen Jahren, wirklich zu Gewalt aufgerufen? Ja, Beck verlässt den Talk, der Asylwerber kehrt in seine Heimat zurück, weil er sein Land befreien will. Beck schlendert inSchlappen“ und Nachthemd durch die Straßen, bald wird man ihn holen.

„Gleich werden die Fahrer kommen, so weiß er, und sich seiner annehmen. Krankenpfleger. Deutschland ist ein gut organisiertes Land. Doch niemand wird an ihn rankommen.“
Seite 492

Was Sie versäumen, wenn Sie diesen hervorragenden, genialen, kaum beschreibbaren Roman nicht lesen:

Schrulligkeit, Exaktheit der Skizzierung ebendieser, Verletzlichkeiten, große Lieben, Abschiede, Ehrlichkeit, Rituale, große wie kleine Gesten, enorme Bescheidenheit aller ProtagonistInnen – man will nach der Lektüre sofort netter zu den Mitmenschen sein.

Arnon Grünberg:

1971 in Amsterdam geboren, lebt in New York. Er wurde/wird mit allen namhaften niederländischen Literaturpreisen ausgezeichnet. 2002 erhielt er den NRW-Literaturpreis für sein Gesamtwerk. Er ist auch als Arnon Grundberg beziehungsweise Amon Yasha Yves Grunberg bekannt.

Arnon Grünberg:
Der Vogel ist krank.
Aus dem Niederländischen von Rainer Kersten.
Zürich: Diogenes Verlag 2023.

Christina RepolustChristina Repolust

Ihre Leidenschaft zu Büchern drückt die promovierte Germanistin so aus: „Ich habe mir lesend die Welt erobert, ich habe dabei verstanden, dass nicht immer alles so bleiben muss, wie es ist. So habe ich in Romanen vom großen Scheitern gelesen, von großen, mittleren und kleinen Lieben und so meine Liebe zu Außenseitern und Schelmen entwickelt.”
www.sprachbilder.at