Buchempfehlung: „22 Bahnen“

Buchempfehlung: „22 Bahnen
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  • Veröffentlicht: 30.09.2023
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Dieser in drei große Kapitel aufgeteilte Roman fackelt nicht lange. Schon sitzt man an der Seite der Protagonistin Tilda und nimmt an ihren Wünschen, Träumen und Problemen teil. Ups!

Viele schlechte Tage und ein kleiner Funken Hoffnung

Man sitzt mit ihr an der Supermarktkassa, im Schwimmbad, in der Uni in der Mathematikspezialvorlesung, wenn es um die Wahl des Themas der Diplomarbeit geht, man kauert mit ihr im Schwimmbad und dann daheim. Das ist eigentlich der traurigste Teil des Tages: Tilda kommt müde von Arbeit und Schwimmen heim, die kleine Schwester Ida schweigt beziehungsweise malt und schweigt und die Mutter ist wieder besoffen. Nein, betrunken reicht als Beschreibung dieses Dauerzustandes nicht.

Nur selten, besonders dann, wenn Mutter zu Monster wurde, reißt sie sich für maximal fünf Tage zusammen. Dann gibt es Spiegeleier. Trost- und Versöhnungsspiegeleier, verbrannte Spiegeleier. Die beiden Mädchen wissen wenig über ihre Väter, die sich aus dem Staub gemacht haben, Tildas Vater und ihre Mutter waren während des Studiums zusammen, dann ging es der Mutter immer schlechter. Der Gradmesser des Alkoholkonsums ist eine Stofftasche, die immer praller gefüllt ist: Wodka, Wein, Wodka … Tilda entsorgt die Flaschen auf dem Weg in die Schule, manchmal redet sie der Mutter gut zu. 

„Wir schauen zur Tür, Ida versteift und hält die Luft an. Sie hat es auch gehört: Mama hat getrunken, und zwar nicht wenig. Zuvor hat sie immer erst nach der Arbeit und nachdem sie bei uns gesessen hat, auf dem Balkon oder auf dem Sofa richtig mit dem Trinken angefangen. Ich schlucke, als ich sie grinsend in ihrem kurzen roten Kleid auf wackligen Beinen im Türrahmen stehen sehe. Natürlich wusste ich, dass es nur eine Frage der Zeit sein würde, bis es wieder eskaliert.“
Seite 112

Dass Tilda während der Volksschule ihre beste Freundin immer nach Hause begleiten und dort den Nachmittag verbringen durfte, bescherte ihr Einblicke ins „normale“ Familienleben mit warmem Essen und einem gedeckten Tisch. Ida ist indes ein stilles kleines Mädchen. Marlene, die Abendbrottisch-Freundin, beginnt mit Ivan zu reden, zu kiffen, Pläne zu schmieden: Alle wollen weg, sogar Marlene mit ihrer Gutes-Essen-Familie.

Tilda erzählt aus ihrer Perspektive, lässt uns teilhaben an ihren Plänen, das angebotene Doktoratsstipendium anzunehmen und nach Berlin zu ziehen, doch vorher muss Ida noch fitter, resilienter werden. Dafür wählt die große Schwester Filme aus. Hier ist die Fürsorgepflicht umgekehrt, beide Schwestern wollen keine Hilfe von außen, wollen zurechtkommen und auf keinen Fall auffallen. Sie wissen, wann die Mutter Tabletten gegen ihre Depressionen braucht und dass neue Lieben gefährlich sind, da sie schnell vorbei sind.

Die 22 Bahnen, die Tilda schwimmt, stehen für Freiheit und Aufbruch. Dabei lernt sie Viktor besser kennen: Viktor ist Ivans Bruder, der mit seiner Familie bei einem Autounfall ums Leben kam. Nun räumt Viktor das Haus aus, Tilda unterstützt ihn, spürt Libellen im Bauch, dort, wo andere Schmetterlinge spüren. Zwei junge Leute, die einander unterstützen, die Einsamkeit und Verzweiflung kennen, die sich nicht mit Sprüchen von Chancengleichheit abspeisen oder verwirren lassen. Wer ist ein „Asi“? Wer wohnt in welcher Brennpunktsiedlung? Warum redet man so schlecht über Russen? – Ida wird selbstständig, traut sich zu, „das“ mit Mama zu managen, Tilda kann nach Berlin ziehen.

Was Sie versäumen, wenn Sie diesen All-Age-Roman nicht lesen:

Realismus, Respekt vor jungen Menschen, Konfrontation mit eigenen Gesellschaftsbildern, präzise Beschreibung von Alltag und Visionen, Resilienz zwischen den Zeilen, Gesellschaftskritik.

Caroline Wahl:

1995 in Mainz geboren und in der Nähe von Heidelberg aufgewachsen, studierte Germanistik in Tübingen und Deutsche Literatur in Berlin. Der vorliegende Roman ist ihr Debütroman.

Caroline Wahl:
22 Bahnen.
Köln: Dumont Verlag 2022.

Christina RepolustChristina Repolust

Ihre Leidenschaft zu Büchern drückt die promovierte Germanistin so aus: „Ich habe mir lesend die Welt erobert, ich habe dabei verstanden, dass nicht immer alles so bleiben muss, wie es ist. So habe ich in Romanen vom großen Scheitern gelesen, von großen, mittleren und kleinen Lieben und so meine Liebe zu Außenseitern und Schelmen entwickelt.”
www.sprachbilder.at

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