Im ostafrikanischen Tansania hält sich eine brutale Tradition: Erst durch Genitalverstümmelung sollen Mädchen zu Frauen werden.
Die Katholische Frauenbewegung Österreichs (kfbö) unterstützt ein Projekt, das Frauen stärkt und in Dörfern für Umdenken sorgt.
Die Löwinnen von Emuguri
Es gab eine Zeit, in der Sophia Jeremias Eltern glaubten, ihre Tochter sei erst mit abgetrennten Schamlippen etwas wert. Niemals würde ihr Mädchen ohne die Beschneidung zu einer Frau werden, kein Mann würde sie heiraten, befürchteten sie. Was hätte ihr Leben dann für einen Sinn? „Ich weiß, dass ich Rechte habe“, Sophia Jeremia springt von ihrem Stuhl auf und stützt sich am Tisch ab. Vor ihrer Brust schwingt eine Kette mit Kreuz, sie trägt ein Kopftuch. Die weiße Bluse unter ihrem beigen Baumwollkleid leuchtet in der Morgensonne.
Jeremia ist 23. Sie lebt dort, wohin EuropäerInnen reisen, um das Abenteuer zu suchen. Diese kommen nach Tansania, weil sie wissen wollen, ob die Luft am Kilimandscharo wirklich dünner wird. Sie haben gehört, dass die Insel Sansibar vor der Küste dem Paradies gleichen soll. Sophia Jeremia sucht kein Abenteuer. Ihr Leben war aufregend genug. Sie lebt dort, wo die Hälfte der Bevölkerung mit weniger als 2,00 Euro am Tag auskommen muss.
Jeremia ist eine Massai, und die Massai sind eines von über 130 Völkern in Tansania. Es ist eine Gemeinschaft, die auf ihre bunte Kleidung, Zeremonien und Viehherden stolz ist. Es ist ein Volk, das Buben so etwas Ähnliches wie das Paradies verspricht, sobald sie Männer sind, und in dem Mädchen durch die Hölle gehen müssen, um Frauen zu werden.
Für die Ehe bereit gemacht
Sophia Jeremia war sechs Jahre alt, als sie zur Frau werden sollte. Es hätte ein besonderer Tag werden sollen, einer, an dem sie ein schönes Kleid getragen und vielleicht Geschenke bekommen hätte, einer, an dem ihre Eltern stolz auf sie gewesen wären. „Schnitt“, sagt Jeremia, drückt Daumen und Zeigefinger zusammen und fährt mit der Hand nach unten. Massai klammerten an alten Traditionen, sagt sie, hätten Angst, mit ihnen zu brechen. Was, wenn ihre Urahnen sie verfluchten? Gemäß dem Brauch muss eine Frau beschnitten sein, damit sie für die Ehe bereit ist. Die Klitoris und die kleinen sowie oft auch die großen Schamlippen würden dabei mit einem Messer oder einer Rasierklinge abgetrennt, sagt Jeremia.
In anderen afrikanischen Ländern werde die Wunde, bis auf ein kleines Loch zum Urinieren, zusammengenäht. Viele Mädchen seien „an ihrem großen Tag“ zwischen vier und zwölf, manche noch nicht einmal ein Jahr alt. Erst der Bräutigam darf seine meist weit unter 18-jährige Braut aufschneiden. Sie soll ihm ihre Jungfräulichkeit schenken, während er seine „Unschuld“ längst verloren hat.
Wer wird sich beschweren?
Jeremia bleibt bei einem weißen „Toyota Land Cruiser“, 90er-Jahre-Modell, stehen. „Catholic diocese of Same“, „Katholische Diözese von Same“, steht an der Wagentür. Eine ältere Frau taucht auf, ebenfalls mit Kopftuch und einer Kreuzkette um den Hals. Schwester Honorata Mvungi ist Projektverantwortliche der „Grail Sisters“, einer Frauenbewegung der Diözese Same im Bezirk Mwanga im Norden Tansanias. Ihr Ziel ist es, die Menschen in ihrem Land dazu zu bringen, die Genitalverstümmelung (Female Genital Mutilation, FGM) nicht mehr zu praktizieren.
Wären die Schwestern nicht gewesen, hätte Sophia Jeremia ihr schönes Kleid getragen. Die christlichen Frauen wussten das aber zu verhindern. Sie redeten mit den Eltern, gaben Jeremia und einem anderen Mädchen Obdach in der Ordensgemeinschaft, bis sie ihre Eltern überzeugen konnten. „Viele Mädchen verbluten bei der Beschneidung“, sagt Schwester Honorata und klettert in den Geländewagen, in dem rechts vorne ein Mann am Lenkrad sitzt. Jeremia folgt ihr. Es könne zu einem Herz-Kreislauf-Kollaps oder einer Blutvergiftung kommen, sagt sie, das Werkzeug sei meist nicht steril.
Etwas läuft verkehrt
FGM ist in Tansania seit 20 Jahren verboten, aber: „Wer wird sich beschweren?“ Die 300.000,00 Tansania-Schilling Strafe, rund 114,00 Euro, musste laut Amnesty International noch fast keiner bezahlen. Vor 18 Jahren gingen die „Grail Sisters“ erstmals in die Dörfer, um den BewohnerInnen zu erklären, dass in ihrer Welt etwas verkehrt läuft.
Jeremia dreht die Innenseite ihres linken Handgelenks nach oben, damit das Ziffernblatt ihrer rosa Plastik-Armbanduhr zu sehen ist. In gut einer Stunde werden sie in Emuguri sein, ihrem Heimatdorf. Es sei nicht einfach, jemanden davon zu überzeugen, dass das, woran er glaubt und woran auch seine Vorfahren glaubten, falsch sein solle, sagt die Ordensfrau. Manche Mädchen hätten sich, weil sich ihre Eltern gegen die Tradition entschieden, sogar selbst verstümmelt.
Der Wert der Töchter
Die Angst, keinen Mann zu finden und im Dorf geächtet zu werden, sei groß, sagt sie. Wie viele Kühe ein Vater für seine Tochter bekomme, wenn er sie verheiratet, hänge vom Wert der Tochter ab, und ob ein Massai reich oder arm sei, bestimme die Anzahl der Rinder. Am Straßenrand geht ein kleines Mädchen, höchstens vier Jahre alt. Von ihrem Rucksack lächelt Disneys Eiskönigin Elsa, die Arme selbstbewusst in die Hüften gestemmt, so als würde sie gerade das Lied „Die Freiheit, sie ist grenzenlos …“ singen. Der Wagen verlässt die Straße, und das Mädchen verschwindet hinter einer roten Staubwolke.
„Die Menschen haben keine Ahnung, was sie da tun“, sagt Schwester Honorata. Es gebe kaum Bildung im Dorf, Mädchen würden oft gar nicht in die Schule geschickt. Deshalb wüssten sie nicht, dass sie gesetzlich Männern gleichgestellt seien und auch nicht, dass es bei der Beschneidung zu Problemen und nachher zu Schmerzen, Infektionen, schweren Komplikationen bei der Geburt und Unfruchtbarkeit kommen könne. Sex sei für die beschnittenen Frauen massiv schmerzhaft und werde nicht zum Spaß praktiziert. Der Mann könne sich deswegen der Treue seiner Frau sicher sein. Darüber zu reden, was ihnen widerfahren ist, sei für die Frauen tabu. „Wir müssen uns gut überlegen, mit wem wir im Dorf sprechen, damit die Aktion nicht nach hinten losgeht“, sagt Schwester Honorata. Die Dorfältesten hätten viel Macht, sie bestimmten, ob sie die Menschen aufklären dürfen, sagt sie.
Karibu, willkommen
Der Wagen hält bei einem Affenbrotbaum, ein Riese, so groß, dass es mehrere Arme brauchen würde, ihn zu umfassen. „Unter dem Schatten dieses Baumes sprachen wir erstmals mit den BewohnerInnen“, erzählt Schwester Honorata und steigt aus dem Wagen. Ein leises Summen ist zu hören, dann wird es lauter, bis ein Lied zu erkennen ist.
Die Frauen von Emuguri tanzen über den Dorfplatz, geordnet, wie Soldaten mit bunten Uniformen. Zur Begrüßung lassen sie sich über ihre nach der Tradition kahl rasierten Köpfe streichen. „Karibu“, sagen sie, „Willkommen“. Jeremia umarmt eine junge Frau, die einen orange-blauen Umhang trägt, Flipflops, eine schwarze Armbanduhr, deren Ziffernblatt nach unten weist, und als einzige eine Afrofrisur. Es ist Asifiwe MBuyuk, die Bürgermeister-Tochter. Ihre und Jeremias Eltern entschieden sich damals gegen die Beschneidung.
Als die „Grail Sisters“ eine Schule im Dorf errichteten, schickten sie ihre Töchter hin. Dort hörten die Mädchen, dass sie gleich viel wert wie Buben seien und es Mädchen geben solle, die nicht beschnitten sind, weil es eigentlich verboten ist. Heute wohnt MBuyuk in Arusha, einer Großstadt, vier Stunden vom Dorf entfernt. Die 24-Jährige ist die erste Frau in Emuguri, die studiert – Pädagogik, sie will Lehrerin werden.
Sie ist stolz auf ihren Vater, dass er ihr ein anderes Leben ermöglichte als ihrer älteren Schwester, die er, weil er es noch nicht besser wusste, beschneiden ließ und gegen ihren Willen verheiratete. Diese hat heute vier Kinder und ist unglücklich. Asifiwe MBuyuk möchte sich ihren Mann selbst aussuchen. „Einen, den ich liebe“, sagt sie. Sie möchte sich vorher aber beruflich verwirklichen, vielleicht reisen. In der Ferne winken Kinder aus den schwarzen Fensterquadraten eines Lehmgebäudes. „Immer mehr Mädchen im Dorf gehen in die Schule“, sagt Sophia Jeremia. Sie habe das Gefühl, dass jetzt eine Generation von Frauen heranwachse, die einen anderen Weg gehen werden als ihre Mütter.
Das schmutzige Messer
Elena Mataio hörte auf, Mädchen zu beschneiden, als eines ihretwegen sterben musste. Die 82-Jährige humpelt etwas, lässt sich neben einem alten Motorrad nieder. „King Lion“, „Königslöwe“, steht auf dem Kraftrad, darüber ein brüllender Löwenkopf. „Du musst aufpassen, dass das Messer nicht schmutzig ist“, sagt sie. Das wusste sie nicht. Jetzt weiß sie es. Doch das holt das Mädchen auch nicht mehr zurück. Mataio zupft an ihrem neongelben Shirt, dann starrt sie auf ihre Handflächen.
Sie fing das Blut der Mädchen mit ihren bloßen Händen auf, sogar ihre eigene Tochter hat sie beschnitten, hat gesehen, welche Schmerzen sie hatte. Sie wollte doch nur ein gutes Leben für sie. „Ich fürchtete mich vor der Antwort Gottes, wenn ich es nicht tat“, sagt sie. Auch das Einkommen brauchte sie. 10.000,00 Schilling, rund 4,00 Euro, verdiente sie pro Beschneidung. Sie hat fünf Kinder, für deren Überleben sie kämpfen musste. Wie die meisten DorfbewohnerInnen besitzt sie ein paar Hühner und baut Getreide für den Eigenbedarf an. Die „Grail Sisters“ zeigten ihr, wie sie ihr Geld anders verdienen konnte. Nun baut sie Pflanzen an, die sie zu Medizin verarbeitet und verkauft. Sie ist jetzt Heilerin.
Es braucht Zeit
Asifiwe MBuyuk schwingt sich hinter einem jungen Mann aufs Motorrad. In vier Stunden wird sie wieder in der anderen Welt sein, dort, wo Mädchen träumen dürfen. Die DorfbewohnerInnen singen und tanzen um Schwester Honorata herum, so als wäre sie ihr Gott Engai, der vom Gipfel des Berges Ol Doinyo Lengai hinabgestiegen ist. „Wir konnten noch nicht alle Menschen in den 30 Dörfern, in denen wir bisher waren, überzeugen. Das braucht Zeit. Wir bilden aber auch Menschen aus, die weitererzählen, wie gefährlich FGM ist“, sagt sie. Ein Mann, Mitte 30, sagt: „Früher war ich für die Beschneidung. Dann starben viele Mädchen im Dorf. Seit ich weiß, warum sie starben, kämpfe ich gegen den Brauch.“
Eine Welt muss untergehen
Sophia Jeremia holt ein orangefarbenes Tuch aus der Tasche, der Wind breitet es aus, lässt die weiße Taube mit Zweig im Schnabel darauf tanzen. Ein paar Frauen springen auf die Ladefläche eines Toyota-Pick-up, roter Staub haftet an ihrer Kleidung. Sie fahren zurück zu ihren Häusern, irgendwo in der Savanne. Heute war ein guter Tag, keiner, der wie ein Sandkorn dem anderen gleicht, sondern einer, der wie eine Windböe alles aufwirbelt und neu ordnet.
Es gab eine Zeit, in der die Frauen von Emuguri glaubten, ihre Zukunft stehe seit dem Tag fest, an dem ihre Eltern „Ni msichana“, „Es ist ein Mädchen“, riefen. Dann kamen die „Grail Sisters“ ins Dorf wie die Taube mit dem Zweig zu Noah, und sie hofften. Eine Welt muss untergehen, während eine neue entsteht. Es wird kein einfacher Weg sein, und sie werden mutig und stark sein müssen. Es war, als würden sie ihre Armbanduhren umdrehen und plötzlich feststellen, dass es so herum eigentlich richtig ist.
Anmerkung: Die Reise nach Tansania erfolgte auf Einladung der kfbö.
Beschneidung: Gewalt gegen Mädchen
Alle elf Sekunden wird weltweit ein Mädchen verstümmelt. Etwa 200 Millionen Mädchen und Frauen in 30 Ländern sind bereits beschnitten, 44 Millionen von ihnen sind unter 15 Jahre alt. Nicht nur die Massai, auch andere Stämme praktizieren die Beschneidung in Tansania. Hier sind etwa zehn Prozent aller Frauen zwischen 15 und 49 Jahren genitalbeschnitten. In Ägypten sind es etwa 91 Prozent. Auch in Österreich sollen etwa 8.000 Frauen betroffen sein. Die Bevölkerung von Tansania sind zu 40 Prozent MuslimInnen, zu 40 Prozent ChristInnen, 20 Prozent üben traditionelle afrikanische Religionen aus. Der Brauch der Genitalverstümmelung ist älter als alle Buchreligionen und wird in keiner vorgeschrieben. Sie kommt sowohl bei MuslimInnen als auch bei ChristInnen vor und ist kein Ausdruck einer Religion, sondern einer Gesellschaft, die Frauen massiv diskriminiert.
Gemeinsam für eine Zukunft aus eigener Kraft!
Die Katholische Frauenbewegung Österreichs unterstützte die „Grail Sisters“ aus Spenden der „Aktion Familienfasttag“ 2019.
Die „Aktion Familienfasttag“ findet jedes Jahr in der vorösterlichen Fastenzeit statt.
Alle Informationen zu den aktuellen Spendenprojekten sowie Spendenmöglichkeit finden Sie unter teilen.spendet.zukunft
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Fotos: Sophia Lang, Ingrid Burgstaller