Innerhalb von drei Monaten verlor Jessica Brandner (26) ihr gesamtes Haar. Die Diagnose: Alopezie. Im Interview erzählt die Wienerin, wie der Verlust die eigene Identität verändert und was sie zur Unterstützung der Betroffenen in Österreich unternimmt.
Frau Brandner, wann äußerten sich die ersten Symptome Ihrer Alopezie-Erkrankung?
Es hat vor drei Jahren, Anfang September 2020, begonnen. Damals hatte ich dichtes, langes, braunes Haar. Die ersten Symptome bemerkte ich beim Duschen und Föhnen. Es ist normal, dass man dabei Haare verliert und am Boden findet, aber da gibt es auch dieses innere Gespür, das einem sagt, wenn etwas außerhalb der Norm ist. All das geschah im Urlaub, ich besorgte mir damals zunächst Supplemente und ein spezielles Shampoo aus der Apotheke. Doch es hat nichts geholfen. Als ich nach Hause kam, bin ich sofort zu meiner Mutter gegangen, die mich vorsichtig mit einer Bürste frisierte und schließlich auch sagte, dass die Menge von einem „normalen Haarausfall“ abweicht und wir ein Blutbild machen müssten. So hat meine „Arzt-Odyssee“, die wahrscheinlich jede/r Betroffene am Beginn durchmacht, begonnen.
Also haben die Erstuntersuchungen und das Blutbild anfangs noch keine Hinweise geliefert?
Nein. Dazu muss man aber auch sagen, dass das Thema Alopezie nicht nur in der Öffentlichkeit wenig Aufmerksamkeit bekommt, auch unter den ÄrztInnen ist es nicht besonders präsent. Sie wissen zwar, dass Haarausfall bei Frauen zum Beispiel während der Schwangerschaft, beim Absetzen der Antibabypille oder in den Wechseljahren auftreten kann, aber ansonsten wird kaum darüber gesprochen. Darüber hinaus gibt es meines Wissens keinen Laborwert, der einen eindeutigen Indikator darstellt.
Wer war Ihre erste Anlaufstelle?
Eine Hautärztin, dann meine Hausärztin. Von dort ging es zur Endokrinologie, um meinen Hormonhaushalt zu überprüfen. Dann folgten Gynäkologie und Hämatologie. Eine Coronainfektion konnte jedenfalls ausgeschlossen werden. Erst als ich wieder bei der Dermatologie angekommen war, sprach der behandelnde Arzt zum ersten Mal das Wort Alopezie aus.
„Einen Grund oder Auslöser für den Ausbruch der Erkrankung gibt es nicht.“
Um welche Erkrankungsform handelt es sich dabei?
Sie ist als Autoimmunerkrankung deklariert, die in unterschiedlichen Formen auftreten kann. Es gibt „Alopecia areata“, wo kleine bis größere, einzelne Stellen betroffen sind. Bei „Alopecia totalis“ betrifft der Ausfall das gesamte Kopfhaar. Und bei „Alopecia universalis“, meiner Variante, verliert man sämtliches Haar am Körper. Einen Grund oder Auslöser für den Ausbruch gibt es nicht. Oft wird Stress als Ursache genannt, aber im Endeffekt weiß man es nicht genau.
Wie sahen Ihre ersten Behandlungsschritte nach der Diagnose aus?
Als erste Maßnahme wurde mir Cortison verschrieben. Das habe ich auch ein bis zwei Monate genommen, aber schnell die Nebenwirkungen gemerkt. In der Folge wurde mir ein stärkeres Medikament verordnet. Nachdem ich den Beipackzettel durchgelesen hatte, entschied ich mich gegen eine Einnahme. Zum einen wäre es nur ein Versuch gewesen, den Haarausfall zu stoppen, zum anderen hätte das Medikament nachhaltige negative gesundheitliche Auswirkungen gehabt. Ich war durchgecheckt und wusste, dass ich grundsätzlich gesund bin und es mir durch die Einnahme nicht besser gegangen wäre. So entschloss ich mich, meinen Haarverlust mit mir selbst auszumachen. Innerhalb von drei Monaten verlor ich sie zur Gänze, den letzten Rest rasierte ich ab.
„Der Tag, an dem ich mich entschlossen habe, den letzten Rest abzurasieren, war der schönste. Ich hatte die Kontrolle wiedererlangt.“
Wie ist es Ihnen gelungen, mit dieser einschneidenden Veränderung fertig zu werden?
Weil es mir heute mit dem Thema sehr gut geht, tendiere ich oft dazu, die Situation etwas herunterzuspielen. Aber diese drei Monate waren wirklich schlimm. Jede/r Betroffene weiß genau, wovon ich spreche. Du wachst auf und hast Angst zu duschen, weil du weißt, dass das Haarewaschen, das Föhnen, jede Berührung einen weiteren Ausfall bedeuten. Mit dieser Angst schläfst du anders, bewegst dich anders. Ich war sehr angespannt und verlor in dieser Zeit auch einiges an Gewicht. Dennoch hatte ich Glück, mit meiner Familie ein unglaubliches Umfeld zu haben. Ich hatte immer jemanden, an dem ich mich festhalten konnte und musste diese Zeit nicht allein durchstehen. Der Tag, an dem ich mich entschlossen habe, den letzten Rest abzurasieren, war der schönste. Ich hatte die Kontrolle wiedererlangt, weil ich wusste: Ich muss nicht mehr in Panik leben, ich bin dem Haarausfall nicht mehr ausgeliefert. Ich konnte wieder aufatmen, fühlte mich befreit und konnte mit der Akzeptanzphase beginnen.
Was war für Sie in dieser Phase wichtig?
Zu sehen, dass ich nicht anders behandelt oder angesehen werde, weder von Familienmitgliedern noch von Freunden oder dem Postboten. Im Frühjahr entschied ich mich aber dennoch dazu, ein Stirnband zu tragen, weil ich mich dadurch einfach wohler fühlte.
Haben Sie damals nach anderen Kontakten gesucht? Sie haben ja bereits im Vorhinein erwähnt, dass es in Österreich hier an AnsprechpartnerInnen fehlt.
Ja, allerdings nicht besonders offensiv. Mein erster Weg war unter anderem die Suche nach Perücken. Dort wurde mir der Kontakt zu einer anderen Betroffenen vermittelt, mit der ich mich telefonisch austauschen konnte. Eine wichtige Plattform war auch Instagram, wo ich NutzerInnen fand, die zu ihrer Alopezie stehen und Tipps geben. Etwa, dass es bei den Augenbrauen nicht immer gleich „Microblading“ sein muss, sondern es simple Klebetattoos wie bei Kindern gibt. Das sind alles nur Kleinigkeiten, doch sie machen unheimlich viel aus. In Deutschland entdeckte ich außerdem den Verein Alopecia Areata Deutschland (AAD).
„Unser Ziel ist es, in Österreich eine Anlaufstelle für Menschen zu werden, die von Haarausfall jeglicher Form betroffen sind.“
Und so haben Sie sich dann entschlossen, eine Community in Österreich aufzubauen?
Genau, ich merkte, dass uns in Österreich so etwas fehlt. Ich bin jetzt Mitglied im AAD. Dort bin ich als Kontaktperson für Österreich eingetragen. Durch den Verein bin ich mit einer Betroffenen aus der Steiermark in Kontakt gekommen. Wir beschlossen, gemeinsam erste Schritte zu setzen, um auf das Thema aufmerksam zu machen. Unser Ziel ist es, in Österreich eine Anlaufstelle für Menschen zu werden, die von Haarausfall jeglicher Form betroffen sind. Für den Anfang haben wir die Facebook-Gruppe „bald & bold – kahl & cool“ gegründet. Die nächsten Schritte sind eine Website und gemeinsame Treffen.
„Mir war zum Beispiel nicht bewusst, wie viel die Haare tatsächlich zur eigenen Identität beitragen. Wenn sie dir ausfallen, bist du auf einmal jemand ganz anderes und musst dich neu kennenlernen.“
Was würden Sie anderen Betroffenen, die gerade ganz am Anfang stehen, raten?
Ich weiß, dass man sich in dieser Situation sehr allein fühlt, auch wenn man Unterstützung hat. Ich würde es jedenfalls nicht empfehlen, sich der Erkrankung ohne Hilfe zu stellen, der Prozess ist schwierig. Ob PsychologInnen, Coaches, Familie oder FreundInnen: Es hilft, sich jemanden zu suchen, mit dem man reden kann. Mir war zum Beispiel nicht bewusst, wie viel die Haare tatsächlich zur eigenen Identität beitragen. Wenn sie dir ausfallen, bist du auf einmal jemand ganz anderes und musst dich neu kennenlernen. Es wird besser, man benötigt dafür aber Geduld und Zeit. Die muss man sich nehmen und mit der neuen Situation experimentieren. Für die einen sind Perücken oder Stirnbänder die Lösung, andere wiederum entscheiden sich für die Glatze. Wichtig ist: Beim Umgang mit Alopezie gibt es nicht den einen Weg, es gibt kein Richtig oder Falsch. Der Weg von Betroffenen ist immer höchst individuell und das darf auch so sein.
Weitere Informationen
Das Leben ist so viel mehr als Makeup, Frisuren und Modetrends. Das „Welt der Frauen“-Magazin berichtet über das, was Frauen wirklich interessiert – dich bestimmt auch. Probier‘s einfach aus!
Jetzt kennenlernen