Manche Situationen möchten wir nicht durchleben müssen – und dennoch geraten wir unverschuldet hinein. Wie gelingt es, schwierige Lebenssituationen anzunehmen, anstatt gegen sie anzukämpfen? Drei „Welt der Frauen“-Leserinnen erlebten Krisen, lernten, sie zu akzeptieren, und erkannten am Ende sogar einen Sinn darin.
Als sich Astrid Petz (57) an einem Märzmorgen vor fünf Jahren auf den Weg ins Krankenhaus machte und beim Blick auf die Uhr die Zeiger sieben Minuten nach sieben anzeigten, wusste sie, dass sie nicht sterben würde. Denn sieben ist für sie eine heilige Zahl, eine, die ihr in schwierigen Zeiten Gutes gebracht hat, und so glaubte sie auch vor ihrer ersten Chemo-Infusion daran, dass da jemand war, der auf sie aufpasste. Krebs, das sei etwas, an dem andere erkranken, dachte sie immer, aber nicht sie, die fünffache Mutter, die viel zu tun hatte und deren Mann oft beruflich unterwegs war. Trotzdem war er da, der zwölf Millimeter große Knoten in ihrer rechten Brust, zu klein, um ihn ertasten zu können, zu groß, um ihn auf den Röntgenbildern zu übersehen.
1 Phase eins: Nicht wahrhaben wollen.
Oder warum Leugnen als erste Reaktion natürlich ist.
Es war eine Routineuntersuchung wie jedes Jahr, die für Astrid Petz das Leben vollkommen veränderte. Diagnose „Mammakarzinom“, bösartiger Brustkrebs, ihr Arzt war bestürzt, als er es ihr sagte, Petz war ruhig. So oft hatte sie sich in der Zeit, in der sie auf das Ergebnis ihrer Biopsie wartete, gedacht, dass das ein Irrtum sein musste. Als sie ein paar Tage nach der Diagnose auf einem Stuhl im Krankenhaus saß und die Zytostatika – jene toxische Substanz, die ihre Zellen, die guten wie die schlechten, angreifen und in ihrem Wachstum hemmen würde – über einen Portkatheter durch ihre Venen flossen, hatte sie den Impuls, sich die Leitungen aus dem Leib zu reißen. „Ich halte das nicht aus“, dachte sie. Doch sie hielt es aus, sechs Stunden lang, und sie begriff: Egal, wie schwer ein Ereignis ist, die Angst vor dem Unbekannten, die Vorstellung darüber und die Veränderung, die es mit sich bringt, ist viel schlimmer als das Erlebnis selbst.
Auch Renate Hanisch (67) wollte es nicht wahrhaben, damals im Oktober 1994, als der Anruf kam. „Ihr Sohn ist von einem Zug erfasst worden, es war Selbstmord“, wurde ihr mitgeteilt. Sie weiß noch, wie der Schock in ihren Körper fuhr und sie die Hand ihres jüngeren Sohnes nahm. Ihr Harald soll tot sein, der älteste der drei Söhne, mit seinen langen blonden Haaren und seinem Greenpeace-Rucksack, er, der stets für Gerechtigkeit kämpft, sich in der Schule engagiert und in einem Monat seinen 18. Geburtstag feiern würde. „Das kann nicht sein“, dachte sie. Harald war nach Innsbruck gefahren, er wollte zusammen mit anderen Jugendlichen gegen eine Demonstration von Rechtsradikalen demonstrieren. Am Abend vor der Versammlung saß er in einem Café, recherchierte sein Vater später. Auch eine Gruppe Rechtsextremer war dort, mit ihnen geriet er in einen Streit. Harald verließ das Lokal, dann verlor sich seine Spur. Am nächsten Morgen war er tot.
Astrid Petz
Was war Ihre größte Angst?
„Die hatte ich, als ich es meinen Kindern sagen musste. ‚Wie können sie das nur aushalten‘, fragte ich mich. Sie haben geweint, wussten nicht, was passieren wird.“
Haben Sie heute Ängste?
„Natürlich, es gibt Momente, in denen ich Angst habe, dass der Krebs wiederkommt. Etwa wenn ich ein Ziehen in meiner Brust spüre. Das ist natürlich, jeder hat Angst, aber es gibt auch immer gute Seiten an einer Krise. Sie macht einen gefestigter.“
2 Phase zwei: Schmerz und Wut.
Oder wie man Gott und die Welt verantwortlich macht.
Sabine Schneider* (45) hatte immer Glück im Leben gehabt, deshalb wunderte sie sich nicht, als die gute Phase vor 16 Jahren endete. Denn „irgendwann bekommt jeder Mensch sein Päckchen, das er zu tragen hat“, sagt sie. Ihres erhielt sie zur Geburt ihrer Söhne. Dass mit ihrem Erstgeborenen etwas nicht stimmen könnte, dachte sie sich erstmals, als er sein Spielzeug nach Farben sortierte, mit zwei Jahren alle Zahlen kannte und die Hausnummern der Nachbarn auswendig wusste. Im Kindergarten versteckte er sich unter einem Baum, dem einzigen Ort, an dem die anderen Kinder ihn, den eigenartigen Buben, der beim Reden spuckte und komisch schaute, nicht verjagten.
Mit fünf Jahren erhielt er die Diagnose „Asperger-Syndrom“, eine Form von Autismus. Seine Sprachentwicklung war normal, er ist überaus intelligent, kann sozial aber nicht interagieren, weil er Signale über Gestik, Mimik und Blicke schlecht deuten und senden kann. Reize nimmt er stark wahr, auf Berührungen reagiert er sensibel und das Geräusch raschelnder Jacken quält ihn. Nach diesem ersten Kind bekam Schneider noch zwei weitere Söhne, sie zeigten ein ähnliches Verhalten. Ihr mittlerer Sohn konnte lange nicht sitzen, er fiel vom Stuhl und Emotionen konnte er nicht kontrollieren.
Er schrie, oft auch stundenlang, etwa auf dem Heimweg von der Schule oder mittags, wenn das Essen auf den Tisch kam und er die Vorfreude auf die Mahlzeit nicht verarbeiten konnte. Schimpfte Schneider, konnten ihre Söhne das nicht verstehen, denn Gefühle anderer sind für sie schwer nachvollziehbar. Schneider war ständig damit beschäftigt, die für ihre Söhne stressauslösenden Faktoren zu identifizieren und zu versuchen, diese auszuschalten. Von ÄrztInnen und LehrerInnen wurde sie nicht ernst genommen, es dauerte Jahre, bis ihr mittlerer Sohn eine Diagnose erhielt, der jüngste hat bis heute keine. Schneider weinte, als ihre Söhne, die Impulse nicht steuern können, Steine auf Autos schmissen und die Nachbarin sie verachtend ansah. Sie galt als die schlechte Mutter, die eine Erkrankung ihrer Kinder erfand, nur weil sie unfähig war, die Buben zu erziehen. Sie war wütend, weil sie niemand ernst nahm, obwohl sie ihre ganze Energie investierte. Ihre Ehe ging in die Brüche. Sie haderte damit, dass ihre Söhne nie dasselbe lernen und können werden wie andere Menschen.
Sabine Schneider*:
Was war das Schlimmste für Sie?
„Dass mir niemand glaubte und ich so lange keine Diagnose für meine Söhne erhielt. Ich war so mürbe, dass ich sogar froh war, als ich endlich einen Namen für das Verhalten meiner Kinder hatte.“
Was hat Ihnen geholfen?
„Ich habe die EFT-Methode angewandt, bei der man durch Klopfen auf Akupunkturpunkte Blockaden und negative Gefühle löst. Das biete ich auch in meinen Beratungen an.“
Der Morgen war für Renate Hanisch das Schlimmste. Mit jedem Aufwachen wurde ihr erneut bewusst, dass nichts mehr so sein würde wie vor dem Anruf. Wenn sie alleine war und sie ihren Schmerz bewusst zuließ, weinte und brüllte sie „wie ein Tier, das nach seinen Jungen sucht“. Sie trauerte um das Leben ihres Sohnes, das viel zu früh enden musste, und fürchtete sich davor, was der Verlust für sie und ihre Familie bedeuten würde. Sie war wie gelähmt, doch am dritten Tag nach dem Anruf stand sie auf, ging in die Küche, öffnete das Fenster und dachte: „Mein Sohn ist tot, aber ich lebe.“ Sie wusste, dass sie trotz des Verlusts einen Weg finden musste, wie sie weitermachen konnte.
Fünf Jahre Psychotherapie und ihre Ausbildung zur Lebensberaterin, die sie vor dem Ereignis gemacht hatte, sollten sich nun als Hilfe erweisen. Ein halbes Jahr lang glaubten sie und ihr Mann an den Suizid ihres Sohnes, doch dann kam Hanisch ein anderer Gedanke: „Harald war nicht depressiv. Ich glaube, es war ein Unfall“, sagt sie. Zwei Träume bekräftigten sie in ihrem Gefühl, sie deutete sie so: Harald war erneut auf die Rechtsradikalen getroffen, er zündelte verbal, zog sich nicht zurück, und als es zum Schlagabtausch kam, weil Harald, wie die Wiener sagen, ein „Häferl“ war, hitzig und schnell aufbrausend, begann eine Prügelei. „Vielleicht wollten seine Gegner den Unfall vertuschen und haben ihn auf die Gleise gelegt“, sagt Hanisch. Was wirklich geschah, konnte nie geklärt werden. Für Hanisch bedeutete das, zwei Versionen des Ereignisses zu betrauern und zu verarbeiten.
Astrid Petz bekam fünf Monate lang Infusionen, sechs Einheiten, in dreiwöchigen Abständen. Danach folgten Bestrahlungen, 28-mal, kurz vor Weihnachten war sie mit der Behandlung fertig. Sie konnte kaum essen, weil ihr ständig übel war, einmal so sehr, dass ihr der Tod nicht mehr als Bedrohung, sondern Erlösung erschien. Sie war müde und kraftlos. Als ihre Haare büschelweise ausfielen, bat sie ihren Mann, ihr den Kopf kahl zu rasieren, und als sie in den Spiegel sah, begegnete sie einer Fremden. Sie bedeckte ihren Kopf mit Tüchern, weil sie sich vor den Blicken der Leute schämte. Petz war wütend, auf die Chemotherapie, auf das Leben, auf Gott, so sehr, dass sie in den Wald ging, schrie und mit den Fäusten gegen einen Baumstamm schlug. „Was willst du von mir, Gott?“, fragte sie. Petz hatte fünf Kinder geboren, viel ohne Hilfe schaffen müssen, mehr als es ihre Kräfte eigentlich erlaubt hätten, und nun sollte sie auch noch eine Krebserkrankung ertragen?
Renate Hanisch:
Welche Gefühle durchlebten Sie bis zur Akzeptanz?
„Es gibt kein Gefühl, das ich nicht hatte. Trauer, Entsetzen und Angst, weil ich nicht wusste, wie meine anderen Söhne es verkraften würden. Das Thema ,Tod‘ hat rückblickend für viele Jahre mein Leben bestimmt.“
Was war für Sie hinderlich?
„Der Widerstand, er macht einem das Leben schwer. Das fängt schon bei banalen Situationen im Alltag an, die man nicht wahrhaben möchte. Doch je mehr man sich dagegen wehrt, umso mehr leidet man. Wer nicht mehr ankämpft, erfährt Gnade.“
3 Phase drei: Verhandeln.
Oder der Deal mit Gott.
Ihre Erkrankung zwang Petz dazu, sich mit dem Tod zu „treffen“ und sich vorzustellen, was wäre, wenn sie mit ihm gehen müsste. Sie entwickelte eine ambivalente Beziehung zu ihm, einmal war er Freund, einmal Feind. In Momenten, in denen es ihr schlecht ging, wollte sie, dass er sie holt und in „die schöne Wohnung, die Gott ihr in seinem Haus bereitet hat“, bringt. Dann dachte sie an ihre Kinder und ungeborenen Enkelkinder. Wenn sie sie kennenlernen wollte, musste sie überleben. Sie ging in einen Dialog mit Gott. „Herr, hilf mir, zu erkennen, welchen Sinn meine Erkrankung hat“, bat sie.
4 Phase vier: Depression.
Oder die Erkenntnis, dass kämpfen nichts bringt.
Fünf Jahre nach dem Tod ihres Sohnes trennten sich Renate Hanisch und ihr Mann. Sie hatten eine glückliche, sehr enge Beziehung geführt, eine, in der sie einander alles waren und der Gedanke, getrennt zu sein, sich anfühlte, als „müsste ich mir einen Arm abschneiden“, sagt Hanisch. Der Schmerz um den Tod des Sohnes schweißte das Paar eine Zeit lang noch näher zusammen, dann entwickelten die beiden sich auseinander. Ihr Mann glaubte an den Selbstmord des Sohnes und lehnte Unterstützung bei der Bewältigung seiner Trauer ab. Er wurde depressiv und nahm Medikamente. Renate Hanisch dagegen vertraute auf ihr Gefühl, glaubte an einen Unfall und suchte sich Hilfe. Neben der Psychotherapie besuchte sie auch eine Selbsthilfegruppe. Dort hörte sie, dass Eltern, die ein Kind verloren haben, nie wieder glücklich werden könnten. Sie aber wollte ihren eigenen Weg gehen, einen, der mit ihrem Mann zusammen nicht möglich war. Irgendwann war die Angst, ohne ihn zu sein, nicht mehr so groß wie der Wunsch nach einem Neuanfang für beide. Renate Hanisch, die immer überzeugt war, niemals alleine leben zu können, stellte fest, dass sie es doch konnte.
5 Phase fünf: Akzeptanz.
Oder wenn man einsieht, dass man sich selbst im Weg steht.
Sabine Schneider war kurz davor, aufzugeben. Es war ihr Stolz, der sie weitermachen ließ. Sie kämpfte, bis ihre Söhne in der Schule IntegrationslehrerInnen bekamen. Hätte sie diese Menschen nicht gefunden, die für sie da waren, wäre sie in der Psychiatrie gelandet, ist sie sich heute sicher. Sie gestaltete Listen, damit ihre Söhne wussten, wie sie sich benehmen sollten, und belohnte sie mit Gummibärchen. „Menschen mit Asperger befolgen nur, was einer Logik entspricht“, sagt Schneider. Einmal, als sie mit ihrem mittleren Sohn von der Schule nach Hause ging und schon auf seine Schreitirade wartete, war sie erstaunt: Das Schreien blieb aus.
Sie versprach ihrem Sohn einen Smiley auf seiner Liste und erklärte ihm, dass dieser Smiley auch auf ihrem Gesicht stehen würde, wenn er auf sie hörte. Als ihr Sohn anfing zu verstehen, war Schneider gerührt davon, wie er Zusammenhänge herstellte, um die Welt zu begreifen. Sie erkannte, dass ihre Mühen nicht umsonst waren und ihre Kinder sich trotz der Schwierigkeiten großartig entwickelten. Sie fing an, zu akzeptieren, und konzentrierte sich auf das, was sie und ihre Söhne bereits geschafft hatten. „Ich wollte solch ein Leben nicht, aber ich wollte drei Kinder“, sagt Schneider. Heute führe sie ein gutes Leben. Vor einigen Jahren absolvierte sie die Ausbildung zur Lebensberaterin und unterstützt heute Eltern, die sich in einer ähnlichen Situation befinden wie sie damals.
Bis Renate Hanisch wirklich akzeptieren konnte, was ihr passiert war, dauerte es sieben Jahre. Doch als das gelungen war, konnte sie sich dem Leben zuwenden. Sie las Selbsthilfebücher, fühlte sich wieder mehr als „Teil des Ganzen“ und verspürte auch öfter Glück. Sie glaubt, dass alles, was passiert, einem höheren Sinn folgt und jeder Mensch eine Aufgabe in seinem Leben zu erfüllen hat. Ihre war es, sich mit dem Tod auseinanderzusetzen und eigenständig zu werden. Manchmal kommen auch noch schlechte Tage und mit ihnen der Schmerz, aber sie ziehen vorüber wie Tag und Nacht. Hanisch weiß heute, dass akzeptieren nicht bedeutet, keine negativen Gefühle mehr zu haben, sondern diese Gefühle nicht überhandnehmen zu lassen und zu spüren, dass das Glück, zu leben, überwiegt.
Nach der Chemotherapie und einer Operation ging Astrid Petz auf Rehabilitation. Sie fand heraus, dass sie bereits seit ihrer Kindheit ihre Grenzen missachtet hatte. Immer war es ihr wichtig gewesen, was andere über sie dachten, sie hatte sich nicht erlaubt, müde zu sein, und hatte sich immer mehr aufgebürdet. Jetzt fühlte sich Petz plötzlich vom Leben beschenkt, sie würde einen neuen Weg gehen, würde „Nein“ sagen, wenn ihre Kräfte nicht reichten, und Verantwortung abgeben, die sie nicht tragen wollte. Sie schloss ihr Studium in Logopädagogik und Existenzanalyse ab, das sie vor ihrer Diagnose begonnen hatte. Vor Kurzem eröffnete sie ihre eigene Therapiepraxis. Der Teil in Astrid Petz, der nicht hörte, wenn es ihr schlecht ging, verschwand genauso wie der Knoten in ihrer Brust. Bis heute sind beide nicht mehr zurückgekommen. Meist lässt sich der Sinn von Krisen erst im Rückblick erkennen. Astrid Petz entdeckte ihre innere Freiheit und Stärke, und sie weiß heute, dass ihre Krankheit zu keinem Zeitpunkt eine Strafe war.
* Name von der Redaktion geändert
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Erschienen in „Welt der Frauen“ Oktober 2020
Fotos: Miriam Raneburger, Alexandra Grill