Der Theologe Pierre Stutz erkennt im Ärger viel gute Energie für das Leben und Lieben und ermutigt zum konstruktivem Zornigsein.
Ärger ist eine Friedenskraft
Nach der Lektüre Ihres Buches zur spirituellen Kraft von Ärger, Zorn und Wut habe ich den Eindruck: Da steckt viel Kraft dahinter, das musste „heraus“.
Pierre Stutz: Stimmt, das Thema beschäftigt mich schon lange. Den Wunsch zu fluchen, wütend sein, alle diese Gefühle habe ich lange Jahre hinuntergeschluckt. Ich dachte sogar, ich bin einer der Glücklichen, die nie wütend werden. Dass das ein Trugschluss ist, musste ich dann schmerzhaft durch mein Burn-out erleben. Die unterdrückte Energie meines Ärgers, meiner Wut hat sich in Arbeitswut umgewandelt, das war nicht nur positiv.
Da drängt sich jetzt die Frage auf: Was macht Sie wütend?
Ach, das sind oft recht banale Dinge, die mich ärgern und sogar wütend machen. Ich selbst bin sehr pünktlich. Wenn jemand zu spät kommt, dann ärgert mich das. Oder wenn etwas gegen meinen Gerechtigkeitssinn geht, dann macht mich das wütend. Und natürlich sind da die großen Themen wie die Kriege auf der Welt – da kann ich dann auch verzweifeln und schreien.
Ist die aktuelle weltpolitische Lage also eine, die Sie verzweifeln lässt?
Es ist erschreckend, wie viel Grausames geschieht. Wenn Sie den Terrorismus betrachten – was eine Person oder eine kleine Gruppe Menschen Entsetzliches bewirken können. Auch das Thema der häuslichen Gewalt ist etwas, was mich zutiefst empört. Es geht aber darum, nicht in der Verzweiflung und Empörung stecken zu bleiben und vielleicht gar in die Gegengewalt zu kommen. Dazu muss ich mir aber zuerst einmal erlauben, mich zu ärgern. Ich darf wütend sein! Ärger ist eine Friedenskraft und ist nicht, so wie ich das gelernt habe, tunlichst zu vermeiden, noch dazu, wenn man doch große Ideale hat.
Sie sprechen die landläufige Meinung an: Ein spiritueller Mensch darf nicht wütend sein. Das ist also ein Irrglaube. Sie meditieren Ihren Ärger demnach nicht einfach weg?
Ein spiritueller Mensch ist für mich jemand, der wahrnimmt, was jetzt ist, ohne es gleich zu bewerten. Es geht darum, auch seinen Ärger wahrzunehmen. Es gehört zu unserer Grundbefindlichkeit als Menschen, dass wir uns ärgern können. Wer Mitgefühl entwickelt, der wird auch Ärger spüren. Das kann dann auch stark werden in Form von Wut, Zorn, Aggression. Das alles darf zu mir gehören, da mache ich nichts falsch. Unsere Aufgabe ist es, einen angemessenen Umgang damit zu finden.
„In der Überzeugung zu leben, dass es nur eine Wahrheit geben kann, führt fast unweigerlich zu Gewalt. Das ist eine Schattenseite von Religion.“
Und wie mache ich das: Wütend sein und daraus eine Friedenskraft entwickeln?
Ein Patentrezept habe ich nicht zu bieten. Ich kann Ihnen nur sagen, was ich mache: Wenn ich Ärger spüre, dann mache ich eine Runde ums Haus. Oder ich atme tief durch. Oder ich stampfe kräftig mit den Füßen auf den Boden. Dann merke ich: „Ah, ich bin nicht nur Ärger, der ist ja nur ein Teil von mir.“
In Ihrem Buch schreiben Sie auch über Scham und Angst und was diese beiden mit Aggression zu tun haben.
Wir schämen uns, haben Angst, auch in Form von schlechtem Gewissen. Das sind wichtige Grunderfahrungen. Oft sind wir aber mit einem krankmachenden schlechten Gewissen beschäftigt. Mich selbst hat die Angst vor Liebesentzug stark geprägt, ein Muster meiner Kindheit. Wenn ich einen dünnhäutigen Tag habe, dann ist da auch heute noch sofort der Gedanke: „Hätte ich doch jetzt bloß nicht gesagt, dass ich das nicht möchte, dann wäre es jetzt harmonisch.“ Falsche Versöhnlichkeit nenne ich das. Dann lasse ich mich wegen eines faulen Friedens im Stich und laufe Gefahr, dass die Aggression durch die Hintertür hereinkommt. Leben und vor allem Lieben haben immer mit Freiheit und Begegnung auf Augenhöhe zu tun. Ohne Konflikte ist das aber nicht möglich.
Zorn kann zerstörerisch, aber auch ein heilender Impuls sein
Auf Zorn folgt auch Gewalt, und die hat oft mit purer Macht zu tun. Wie sehen Sie das Verhältnis von Gewalt, Macht und Religion?
In der Überzeugung zu leben, dass es nur eine Wahrheit geben kann, führt fast unweigerlich zu Gewalt. Das ist eine Schattenseite von Religion, aber auch generell eine Identitätsfrage. Zorn kann zerstörerisch, aber auch ein heilender Impuls sein, wenn ich nämlich mit einem Machtgefälle konfrontiert bin und klar sage: „Das mache ich nicht mit.“ Ein Beispiel: Ich selbst habe mich schon früh darüber empört, dass die katholische Männerkirche einfach sagt: „Frauen können keine Priesterinnen sein.“ Auch jetzt, wenn ich darüber spreche, macht mich das wütend. Diese Haltung habe ich immer kundgetan und bin damit angeeckt.
Es geht also darum, sich zu empören und etwas zu tun?
Dazu möchte ich Mut machen. Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel sagt: „Das Gegenteil von Liebe ist nicht Hass, sondern Gleichgültigkeit.“ Die nimmt ja wieder zu: „Ich krieg meine Rente schon, alles andere ist mir egal.“ Um nicht gleichgültig zu werden, können wir dankbar sein, dass wir Ärger und Wut spüren. Man muss dann aufpassen, nicht in die Nörgelkultur mit einzustimmen und immer nur den anderen Schuld zu geben. Es geht um Eigenverantwortung: „Ich nehme mich selbst und mein Ideal einer Gesellschaft ernst. Ich erhebe dafür meine Stimme. Ich leiste meinen Beitrag.“
Das ist also ein Plädoyer dafür, sich nicht in der Hoffnungslosigkeit zu verkriechen?
Genau. Konstruktiver Ärger zeichnet sich dadurch aus, zu sagen, was ich brauche. Und zwar mit Respekt dafür, dass der andere das auch sagen darf. Es geht darum, einen Weg zu finden, wie wir mit diesen unterschiedlichen Bedürfnissen umgehen können. Hart wird es dann, wenn mein Gegenüber – zum Beispiel in einer Beziehung – das nicht so sieht. Da kann ich dann
nur schauen, ob es trotzdem Gemeinsamkeiten gibt und wo ich mühsam akzeptieren muss, dass Teile im Moment noch nicht zusammengehen. Auch die Entscheidung, zu sagen: „Wir lassen das jetzt“, ist konstruktiv.
Sie schreiben auch über jenen jungen Vater, der beim Terroranschlag in Paris 2015 seine Frau verloren hat und den legendären Satz prägte: „Meinen Hass bekommt ihr nicht.“
Mich hat das regelrecht erschüttert. Wie er diesen unglaublichen Satz wenige Stunden nach dem Attentat öffentlich macht. Drei Wochen später – und das ist für mich fast noch wichtiger – schreibt er: „Dieser Satz überfordert mich.“ Weil alle Menschen meinten, er sei nur noch im Frieden, und er aber wieder starke Rachegefühle spürte. Das in Worten auszudrücken, ist für mich eine Spiritualität des heiligen Zornes. Das ist für mich ein Friedensmensch!
Der Schweizer Pierre Stutz
Jahrgang 1953, ist katholischer Theologe, Vortragender und Autor von mehr als 40 Büchern, zuletzt „Lass dich nicht im Stich. Die spirituelle Botschaft von Ärger, Zorn und Wut“. Er trat mit 20 Jahren in den Orden der „Frères des Écoles Chrétiennes“ („Schulbrüder“) ein. Nach dem Theologiestudium in Luzern und der Arbeit als Jugendseelsorger war er Dozent am Katechetischen Institut der Theologischen Fakultät in Luzern. Zusammen mit Gleichgesinnten gestaltete er die „Abbaye de Fontaine-André“ in Neuchâtel als offenes Kloster und spirituelle Gemeinschaft von Frauen und Männern, auch verheirateten. Nach 17 Jahren als Priester legte er 2002 sein Priesteramt nieder und lebt seit 2003 mit seinem Lebensgefährten zusammen.
Pierre Stutz:
Lass dich nicht im Stich.
Die spirituelle Botschaft von Ärger, Zorn und Wut.
Patmos Verlag, 20,00 Euro
Erschienen in „Welt der Frau“-Ausgabe September 2017