Weihnachten und die Corona-Pandemie haben auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun. Im Gegenteil, die eine ruiniert heuer das andere. Oder doch nicht?
Erinnern Sie sich an die Zeit, als man sich für das Auto ein Wunschkennzeichen kaufen konnte? Da gaben manche ganz schön viel Geld aus, um den Schriftzug „Karl 1“ oder „Chef 1“ zu ergattern oder gut gemeint „Oma 1“ zu verschenken. Im politischen Bereich wurde nach derselben Logik „Amerika first“ propagiert oder „Österreich zuerst“. Immer geht es darum, Erster zu sein. Man könnte auch sagen, sich selbst in den Mittelpunkt zu stellen.
Tatsächlich kann man die Welt nicht anders als durch sich selbst wahrnehmen. Die Pandemie des Jahres 2020 führt uns aber vor, dass es nicht reicht, dabei stehen zu bleiben. Diese heimtückischen kleinen Viren lassen sich nicht wie unliebsame Asylwerber oder andere Gäste an den Grenzen zurückschicken. Sie drängen sich auf und unterhöhlen einen wichtigen Glaubenssatz der Gegenwart. Der lautet: „Es kommt nur darauf an, dass ich mache, was mir guttut.“ Weit gefehlt. Es kommt darauf an, die anderen mitzudenken. Was kann ich tun, um nicht unfreiwillig zur Virenschleuder und somit zum Überbringer von Krankheit und, Gott bewahre, sogar Tod zu werden.
Für viele – besonders jüngere, wie es scheint – Zeitgenossinnen und Zeitgenossen ist dieses Mitdenken eine riesige Herausforderung. Es soll nicht kulturpessimistisch klingen, aber die Frage stellt sich: Sind wir dabei, zu verlernen, wie Rücksicht geht? Mehr noch: Ist „Triebkontrolle“, um es etwas technisch zu sagen, noch modern? Können wir Bedürfnisse wie Reisen, Feiern und Nähe noch aufschieben zugunsten eines übergeordneten Zieles?
Ich zuerst
Ich wage eine kühne Schleife. Weihnachten, so wie ich es verstehe, ist die radikale Absage an „Ich zuerst“. Gott wird Mensch, sagt der Glaube, um die Nächstenliebe leibhaftig werden zu lassen. Jedes Kind ist völlig angewiesen auf andere. Kümmert man sich nicht um dessen Notwendigkeiten, stirbt es. Alle Eltern wissen, dass für längere Zeit nicht ihre Bedürfnisse, sondern die des kleinen Wesens im Mittelpunkt stehen. Trotz aller Gefühlsschwankungen, die das auslösen kann, lässt die Liebe einen das ertragen. In Zeiten der Pandemie ist diese grundsätzliche Liebe zu anderen stärker gefragt denn je. In jedem anderen einen schützenswerten Menschen zu sehen, verlangt uns einiges ab. Es geht gar nicht so wenigen sogar gegen den Strich.
Man kann den Bogen auch noch größer spannen. Soweit wir einschätzen können, ist die Verbreitung todbringender Viren unter anderem ein Problem unserer hemmungslosen Nutzung der Natur. Ungeachtet des enormen Ressourcenverbrauches waren wir bis vor Kurzem global mobil und haben so die Viren um den Erdball mitgenommen. Es wird, so scheint es, Zeit für einen Neubeginn mit anderen Werten. Exakt das meint auch die Weihnachtsbotschaft, der zufolge mit einem Neugeborenen die Weltgeschichte neu geschrieben werden soll.
„Ach, jetzt predigt die Haiden, werden Sie womöglich denken. Immer diese Moral, immer der Appell.“
Sie haben recht. Wie manche behaupten, dass das mit den gefährlichen Viren so gar nicht stimme, ist auch das Weihnachtsereignis für nüchterne ZeitgenossInnen längst widerlegt. Eine nette Geschichte, gut genug, um damit Geschäfte zu machen. Oder doch nicht?
Die Pandemie rührt an tiefe Ängste, und deren stärkste ist, zu sterben. Wir wissen um unsere Zerbrechlichkeit. Sie beginnt im Moment unserer Geburt. Gerade in der größten Angewiesenheit auf andere, ob im Eintritt in das Leben oder beim Abschied daraus, liegt aber auch der Zauber des Neubeginns. Verstehe es, wer kann. Wenn Weihnachten und Pandemie aufeinandertreffen, liegt beides, Anfang und Ende, offen vor uns. Wir verdanken uns nicht uns selbst, wir sind zeitlebens auf andere angewiesen und dazu angehalten, unsererseits für andere da zu sein. Wenn es nicht gut so wäre, hätten wir keinen Anlass, Weihnachten zu feiern.
Was Ehrfurcht bringt
Woran denken Sie, wenn Sie spazieren gehen? Eine gute Frage, die amerikanische Forscher TeilnehmerInnen an einer Studie über Ehrfurcht gestellt haben. Die Ergebnisse waren überraschend. Wer vor dem Gang ins Grüne aufgefordert worden war, bewusst wahrzunehmen, was da auf dem Weg und rundum zu sehen war, erlernte das Staunen wieder. Wer einfach so losmarschierte, ging in Gedanken das durch, was er von daheim mitgenommen hatte, blieb also bei sich. Das Interessante daran ist, dass die Gruppe, die bewusst Ehrfurcht geübt hatte, im Lauf der Zeit auch heiterer und zuversichtlicher wurde. Ehrfurcht wird als Mischung aus Staunen und Respekt beschrieben. Sie vermittelt einem Menschen das Gefühl, klein zu werden – angesichts der Größe der Natur beispielsweise. Aber gerade das schafft auch Verbundenheit, macht bescheidener und großzügiger. Die Forscher schließen aus ihren Versuchen, dass man Ehrfurcht lernen kann. Positiver Nebeneffekt: Wer verbundener ist, lächelt häufiger und zeigt ein freundliches Gesicht.
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Erschienen in „Welt der Frauen“ Dezember/ 2020
Illustration: www.margit-krammer.at